„Pflegenotstand“. Ein Wort, das man seit geraumer Zeit immer wieder hört. Sei es in der Altenpflege oder im Krankenhaus, die Situation der Pflegekräfte und Pflegebedürftigen scheint sich kaum zu verbessern. Und die Corona-Krise hat nicht viel Positives gebracht. Im Gegenteil. Hier werden wir versuchen, verschiedene Aspekte des Themas näher zu beleuchten, um besser zu verstehen, was ‚Pflegenotstand‘ bedeutet, woher dieser kommt, wie er sich konkret im heutigen Pflegealltag ausdrückt und welche Lösungsansätze für die Zukunft bestehen.

Das Wichtigste in Kürze

  • Der Pflegenotstand verschlimmert sich kontinuierlich seit den Sechzigern.
  • Die Ursachen für diese Notstandsituation sind multifaktoriell.
  • Die Auswirkungen auf Pflegekräfte und Patienten sind schwerwiegend.
  • Die Corona-Krise hat den Pflegenotstand weltweit verschärft.
  • Die Pflegepolitik hat bislang keine langfristige Verbesserung der Lage gebracht.
  • Zukünftige Lösungen liegen vielleicht in einem Wandel der grundlegenden Rahmenbedingungen.

Was versteht man eigentlich unter dem Begriff Pflegenotstand?

  • Mangel an Pflegekräften
  • schwierige Arbeitsbedingungen der Pflegekräfte
  • Komplikationen für Patienten und Pflegebedürftige

Im Duden wird Pflegenotstand als „großer Mangel an Pflegekräften in Krankenhäusern und anderen der Pflege von Kranken und alten Menschen dienenden Einrichtungen“ definiert. Dieser berufspolitische Begriff wurde erstmals in den 60er Jahren verwendet, als die Altenpflege ausgeweitet wurde und gleichzeitig rund 50.000 Pflegestellen in neu entstandenen Krankenhäusern unbesetzt waren. Trotz Krankenpflegegesetz und einem strukturierten Ausbildungsrahmen musste bereits damals auf Pflegekräfte aus dem Ausland zurückgegriffen werden. Die heutige Entwicklung sieht noch dramatischer aus. Nach Aussagen des Institutes der deutschen Wirtschaft könnten bis zum Jahr 2035 über 300.000 Pflegekräfte allein in der stationären Pflege fehlen. Unter Pflegenotstand versteht man aber nicht nur unbesetzte Posten in Form von kalten Statistiken und nackten Zahlen. Es geht vielmehr um die konkreten Arbeitsbedingungen der Pflegekräfte sowie die Situation der Patienten und Pflegebedürftigen, welche sich unter diesem chronischen Notstand auf beiden Seiten verschlechtern.

Gut zu wissen!

Der Begriff „Pflegenotstand“ wurde erstmals in den 60er Jahren gebraucht.

Warum Pflegenotstand in Deutschland besteht

  • Pflegeberufe verlieren an Attraktivität
  • menschliche Komponente macht Kostenoptimierung Platz
  • demografischer Wandel
  • zunehmende Ehelosigkeit und Scheidungen
  •  größere Mobilität und geografische Entfernung der Nachkommen

Die Ursachen für den Pflegenotstand sind komplex. Mehrere Faktoren fließen in die Problematik ein. Zum einen sind Pflegeberufe aus rein finanzieller Sicht eher unattraktiv. Die Bruttostundenlöhne liegen in den besten Fällen etwas über 16 EUR. Auch wenn das Mindestgehalt in der Altenpflege laut neuem Tarifvertrag angehoben werden sollte, wählt wohl niemand einen Pflegeberuf, um sich zu bereichern. Zum anderen müssen auch auf Seiten der rein menschlichen Komponente mit steigender Tendenz Abstriche gemacht werden. Personal, welches aus Liebe zum Menschen in den Beruf eingestiegen ist, muss nun feststellen, dass ihm oft die nötige Zeit fehlt, sich ausreichend um die ihm Anvertrauten zu kümmern. Wo früher ein aufbauendes Pläuschchen oder eine Hand gehalten werden konnte, sind nun Fließbandrhythmus und Kostenoptimierung angesagt. Und natürlich steigt auch die körperliche Belastung der Pflegekräfte, wenn sie – laut einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung – im Schnitt täglich 13 Personen allein versorgen. Neben der abnehmenden Attraktivität der Berufsbranche ist der demografische Wandel ein wesentlicher Grund. Denn Deutschland altert. So gibt es immer mehr Pflegebedürftige. In 20 Jahren hat sich die Anzahl der Pflegebedürftigen mehr als verdoppelt. Und nach einer Prognose des Statistischen Bundesamtes soll der Anteil der Über-67-Jährigen bis 2034 noch einmal um 5% ansteigen. Seit 1990 hat dieser bereits um 7 % zugenommen. Lag der Anteil der Älteren 1990 noch bei 13 % der Gesamtbevölkerung, ist 2021 ein deutscher Bürger von fünf über 67. Zudem leben ältere Menschen zunehmend allein, da heutzutage immer weniger Ehen bis ins hohe Alter halten. Auch Kinder kümmern sich immer seltener um ihre alternden Eltern, schon allein deshalb, weil sie sehr häufig nicht in der Nähe wohnen. Aus diesem Grund benötigen immer mehr Menschen unterstützende Pflegedienstleistungen außerhalb des Familienbundes.

Gut zu wissen!

Ein Deutscher von fünf ist heute über 67. In den letzten 20 Jahren hat sich die Anzahl der Pflegebedürftigen mehr als verdoppelt.

Auswirkungen des Pflegenotstandes auf Arbeitsbedingungen und Motivation der Pflegekräfte

  • Zeitdruck, Stress
  • hoher Arbeitsanfall
  • Schuldgefühle
  • Sinnfrage

In einer Online-Umfrage des Jahres 2016, welche von Elisabeth Scharfenberg, Mitglied des Bundestages und Sprecherin für Pflege- und Altenpolitik bis 2017, durchgeführt wurde, äußerten 68 % der befragten Pflegekräfte bezüglich ihrer Arbeitsmotivation, dass sie vom Gefühl getragen würden, etwas „Sinnvolles zu tun“. Gleichzeitig klagten 87 % über „Zeitdruck auf der Arbeit“ und 82 % über mangelnde „Personalausstattung im direkten Umfeld“. Auf die Frage, ob sie sich mit ihrem aktualisierten Wissen über die Arbeitsbedingungen wieder für einen Pflegeberuf entscheiden würden, antwortete rund die Hälfte der Befragten mit nein.

Eine erst kürzlich durchgeführte Studie der Pflegeberufekammer Schleswig-Holstein bestätigt die komplizierten Arbeitsbedingungen aufgrund von Fachkräftemangel, Zeitdruck und hohem Arbeitsanfall. In dieser Studie tritt aber auch eine große emotionale Belastung zum Vorschein, welche sich bei einigen Pflegekräften sogar als Schuldgefühl ausdrückt. So haben Pflegekräfte heute vermehrt den Eindruck, nicht mehr „menschenwürdig pflegen“ zu können und den Patienten „gerecht zu werden.“ Das 2016 noch weit verbreitete Gefühl, etwas „Sinnvolles zu tun“, gerät offensichtlich ins Wanken. Und immer mehr Berufsabgänge scheinen gerade hierdurch motiviert zu sein.

Achtung!

Die Überzeugung, etwas „Sinnvolles zu tun“, verlässt heute immer mehr Pflegekräfte.

Corona-Krise und Pflegenotstand

Mit der Corona-Krise hat sich der Pflegenotstand in Deutschland noch verschärft. Eine Reportage des Mitteldeutschen Rundfunks von Juni 2021 legt die chronische Überlastung des Pflegepersonals in der Intensivmedizin offen. Erschöpfung und Burnout stehen an der Tagesordnung. Rund ein Drittel der Pflegekräfte habe laut einer Umfrage der ‚Deutschen Gesellschaft für Internistische Intensiv- und Notfallmedizin‘ bereits über einen Berufswechsel nachgedacht. Aber auch das Pflegepersonal in Heimen und Pflegediensten wurde von der Corona-Krise zusätzlich belastet. Denn eine Studie von Pflegeforschern der Universität Bremen hat ergeben, dass die Sterblichkeit bei Pflegebedürftigen mehr als fünfzigmal höher als in der Restbevölkerung war. Allein schon die psychische Belastung, zahlreiche ihnen anvertraute Menschen sterben zu sehen, hat viele Pflegekräfte zur Kündigung bewegt. Aber auch der politische und soziale Druck, an der Corona-Impfkampagne teilzunehmen, hat so manche impfkritische Pflegekraft die Klinke in die Hand nehmen lassen. Dem Deutschen Ärzteblatt zufolge sind Deutschland während der Corona-Krise über 9000 Pflegekräfte verloren gegangen.

Achtung!

Die Corona-Krise hat den Pflegenotstand noch verschärft. Über 9000 Pflegekräfte haben in dieser Zeit ihren Pflegeberuf verlassen.

Die Definition von Pflegepolitik

Unter „Pflegepolitik“ versteht man den Bereich der Politik, der für die Planung, die Steuerung und die Finanzierung der Pflege verantwortlich ist und diese ausgearbeiteten Strategien durch entsprechende Gesetze und Verordnungen einrahmt.

Pflegenotstand und Pflegepolitik

Um dem demografischen Wandel entgegenzuwirken, wurde vor gut 25 Jahren die Pflegeversicherung eingeführt. Jedoch wurde bald klar, dass die Entwicklung der Pflegeverhältnisse weitere Neuregelungen benötigte. Verschiedene Pflegeneuausrichtungs- und Pflegestärkegesetze sowie diverse Reformen haben seither versucht, sowohl den wirtschaftlichen als auch den sozialen Herausforderungen gerecht zu werden – mit mehr oder weniger Erfolg. Kritische Stimmen werfen der aktuellen ‚Pflegepolitik Spahn‘ vor, dass sie weder etwas an der Unterbezahlung und Überforderung der Pflegekräfte noch an der finanziellen Belastung der Pflegebedürftigen ändere und die geplante Reform auch keine langfristige Absicherung der Pflege gewährleiste.

Aktuelle Situation der Pflegekräfte in Krankenhäusern und in der Altenpflege

Die Arbeitsmarktsituation im Pflegebereich ist laut der Statistiken der Bundesagentur für Arbeit weiterhin gespannt. Aus einem Bericht von Mai 2021 geht hervor, dass die Arbeitskräftenachfrage in den letzten fünf Jahren in der Altenpflege um 13 % gestiegen ist und in der Krankenpflege sogar um 28 %. Die Nachfrage in Krankenhäusern und Kliniken ist also mehr als doppelt so hoch. Nach Angaben der Präsidentin des Deutschen Pflegerats Christine Vogler seien momentan insgesamt mehr als 200.000 Stellen unbesetzt.

Gut zu wissen!

Die Arbeitskräftenachfrage in der Krankenpflege ist doppelt so hoch als in der Altenpflege. Insgesamt sind aktuell mehr als 200.000 Stellen unbesetzt.

Wie Patienten und Pflegebedürftige den Pflegenotstand erleben

  • lange Wartezeiten
  • verkürzte Klinikaufenthalte
  • vermehrte Diagnostik- und Behandlungsfehler
  • aufgelöste Pflegeverträge
  • kein Platz in Alters- und Pflegeheimen

Auch auf Seiten der Patienten und Pflegebedürftigen ist der Pflegenotstand problematisch. Trotz Mehrarbeit und Hingabe der Pflegekräfte sieht die Realität für Patienten in Krankenhäusern in vielen Fällen wie folgt aus: Stundenlanges Warten in der Notaufnahme, verkürzte Klinikaufenthalte auch bei schweren Erkrankungen, kurz angebundes, überfordertes Personal sowie vermehrte Diagnostik- und Behandlungsfehler. In der Altenpflege stehen die Dinge nicht besser. Zahlreiche Pflegedienste nehmen keine neuen Patienten mehr an und lösen mitunter bereits bestehende Pflegeverträge wieder auf. Auch Alten- und Pflegeheime sehen sich immer öfter gezwungen, pflegebedürftige Personen aufgrund von Personalmangel abzulehnen.

Pflegenotstand weltweit

Herrscht Pflegenotstand nur in Deutschland? Wie sieht es in der Welt aus? Auch wenn einige skandinavische Länder verglichen mit Deutschland in der Pflege sehr viel besser abschneiden, ist Pflegenotstand ein globales Problem. Der International Council of Nurses (ICN) – auf Deutsch „Weltbund der Krankenschwestern und Krankenpfleger“ – befürchtet zukünftige Massenkündigungen der Pflegekräfte in allen 130 Mitgliedsstaaten.

Achtung!

ICN befürchtet Massenkündigungen in 130 Mitgliedsstaaten.

Zukunftsaussichten und Fazit

Vielleicht ist aber nicht alles verloren. Vielleicht trägt die Zuspitzung in der Pflegekrise sogar ihre eigentliche Lösung mit sich. Der Sozialpädagoge und Buchautor Claus Fussek bringt es auf den Punkt. Am 13. Oktober 2021 sagte er in der ‚Tagesschau‘: „Die Pflege kollabiert seit 30 Jahren, seit 30 Jahren wird es immer schlimmer. Die Pflege ist ein gigantischer Wachstumsmarkt. In der Pflege sind börsenorientierte, renditeorientierte Pflegekonzerne unterwegs. Es werden Milliarden an den Folgen schlechter Pflege verdient. Die Pflege müsste endlich die Schicksalsfrage der Gesellschaft werden. Den Pflegekräften kann ich nur sagen: Solidarisiert euch untereinander, solidarisiert euch mit den euch anvertrauten Patienten und deren Angehörigen. Es muss raus aus einer parteipolitischen Diskussion. Pflege geht uns alle an.“

FAQ - Häufige Fragen zum Pflegenotstand