„Das große Vergessen“ betrifft nicht nur ältere Personen, auch in jungen Jahren können Menschen an kognitiver Leistungsfähigkeit einbüßen. Durch Abbauprozesse des Gehirns verlieren Kinder und Jugendliche nach und nach körperliche und geistige Fähigkeiten – das Laufen, Sehen oder Sprechen kann dann beispielsweise schwerfallen. Vor allem für Eltern betroffener Kinder ist die Erkrankung eine große psychische Belastung.
Wir erklären Ihnen, mit welchen Symptomen eine Kinderdemenz verknüpft ist, wie sie entsteht und welche Therapiemaßnahmen es gibt.
Das Wichtigste in Kürze
- Kinderdemenz ist ein Sammelbegriff für unterschiedliche Erkrankungen, die mit dem Verlust der kognitiven Leistungsfähigkeit in jungen Jahren einhergehen.
- Es gibt verschiedene Formen von Kinderdemenz, sie alle gehören zu den seltenen Erkrankungen.
- Bei der Kinderdemenz kommt es zu Entwicklungsstörungen, Bewegungsstörungen, Verhaltensänderungen und Krampfanfällen.
- Mit einer genetischen Untersuchung kann festgestellt werden, ob eine Kinderdemenz vorliegt.
- Eine Kinderdemenz ist nicht heilbar, es gibt jedoch verschiedene Behandlungsansätze, um die Symptome zu lindern.
Was ist eine Kinderdemenz?
Das Wort „Kinderdemenz“ ist ein Sammelbegriff für über 250 verschiedene Erkrankungen. Sie alle führen zu Einschränkungen der kognitiven Fähigkeiten bei Kindern. Mediziner zählen diese zu den seltenen Krankheiten, zu den sogenannten „orphan disease“.[1] Eine Krankheit gilt dann als selten, wenn nur wenige Personen daran erkranken – oftmals erhält das Krankheitsbild weniger Aufmerksamkeit, als es aufgrund der damit einhergehenden Beeinträchtigung verdient hätte.[2] Es gibt zwar Zahlen zu der Häufigkeit von Kinderdemenz, hier spielt die Demenzform allerdings eine entscheidende Rolle – die Kinderdemenz NCL betrifft 1 von 30.000 Neugeborenen. Auch wenn die Erkrankung nur selten in der Öffentlichkeit steht, handelt es sich dabei keineswegs um ein erst kürzlich entdecktes Phänomen. Bereits im Jahr 1826 beschrieb Christian Stengel, ein norwegischer Arzt, die Krankheit bei mehreren Kindern innerhalb einer Familie.[3]
Formen von Kinderdemenz
Eine Kinderdemenz wird in der Öffentlichkeit oft mit der NCL-Krankheit gleichgesetzt, das ist jedoch nicht ganz korrekt. Schließlich handelt es sich bei der NCL-Krankheit nur um eine Form von Kinderdemenz. Manche Erkrankungen, die im Kindesalter zu neurodegenerativen Veränderungen des Gehirns führen, sind derart selten, dass weltweit nur einige Fälle bekannt sind. Das trifft beispielsweise auf die Multiple Sulfatasedefizienz zu.1 Im Zusammenhang mit Kinderdemenz können Sie außerdem von der zerebralen Form der X-chromosomalen Adrenoleukodystrophie (X-ALD), dem Alpers Syndrom oder der Metachromatischen Leukodystrophie (MLD) lesen. Besonders häufig begegnen Ihnen vermutlich die Neuronalen Ceroidlipofuszinosen (NCL). Bei diesen Erkrankungen gibt es wiederum mehrere Unterformen wie die infantile Form, die spät-infantile und die juvenile NCL.[4]
Kinderdemenz: Symptome im Überblick
Anfangs verläuft die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen in der Regel völlig unauffällig. Sie wachsen heran und erlernen kognitive und motorische Fähigkeiten, die ihrem Alter entsprechen. Je nachdem, welche Demenzform vorliegt, tritt jedoch ein stetiger Verlust der erworbenen Fähigkeiten ein – die kleinen Patienten können Hörstörungen oder Sehstörungen entwickeln, motorische und kognitive Fähigkeiten lassen nach oder sind komplett verloren. Bei vielen Patienten kommt es außerdem zu Krampfanfällen.1 Im Folgenden geben wir Ihnen einen Überblick über mögliche Symptome am Beispiel der Neuronalen Ceroidlipofuszinosen, kurz NCL.
Folgende Symptome können bei der Kinderdemenz NCL auftreten:
- Sehstörungen bis hin zu Blindheit: Anfangs fällt Ihnen womöglich auf, dass Ihr Kind Dinge zunehmend schlechter zu sehen scheint und stolpert. Die anfänglichen Sehstörungen können im Laufe der Erkrankung in eine Erblindung münden.[1]
- Störungen bei der Entwicklung: Anfangs hat sich Ihr Nachwuchs wahrscheinlich völlig unauffällig entwickelt, nun ist die Entwicklung aber deutlich verzögert. Ihrem Kind fällt es schwer, neue Wörter zu erlernen oder sich Bewegungen anzueignen. Sie haben eher das Gefühl, dass Ihr Nachwuchs Rückschritte statt Fortschritte macht. Das Sprechen, das Lösen von Mathematikaufgaben oder das Lesen stellen nun ein Problem dar. Außerdem bemerken Sie, dass Ihr Kind sich nicht konzentrieren kann und dass die Merkfähigkeit reduziert ist. Insgesamt fällt auf, dass die geistigen Fähigkeiten nachlassen.5
- Störungen bei der Bewegung: Bei Ihrem Kind kommt es zu einem Muskelabbau und die Bewegungen scheinen unkoordinierter. Im Laufe der Erkrankung lässt die Lauffähigkeit nach, bis die jungen Patienten auf einen Rollstuhl angewiesen sind. Auch der Kau- und Schluckvorgang ist zunehmend eine Herausforderung.5 Das zeigt, dass eine Dysphagie (Schluckstörung) nicht nur ältere Menschen trifft.
- Verhaltensänderungen: Wie auch eine Demenz bei Erwachsenen, kann auch eine Kinderdemenz zu einem veränderten Verhalten führen. Depressionen, Aggressionen, Angststörungen oder Halluzinationen sind möglich.5
- Krampfanfälle: Die Kinderdemenz kann bei Betroffenen epileptische Anfälle bewirken.[2] Diese können sich ganz unterschiedlich bemerkbar machen. Manchmal erfassen die Anfälle den gesamten Körper, in anderen Fällen nur einen einzelnen Arm oder ein Bein. Epileptische Anfälle dauern meist mehrere Sekunden bis wenige Minuten an.[3]
Genetisch bedingte Stoffwechselstörungen sind Ursache von Kinderdemenz
Die verschiedenen Formen von Kinderdemenz haben neben dem oft ähnlichen Beschwerdebild eine weitere Gemeinsamkeit: die erblichen Gendefekte als Ursache. Sie führen meist zu einem gestörten Stoffwechsel im Hirn, mit weitreichenden Folgen. Das Hirngewebe und die Nervenzellen sind auf verschiedene Stoffe angewiesen, um sich aufzubauen und um funktionieren zu können. Die einzelnen elementaren Bausteine können durch den gestörten Stoffwechsel fehlen. Ein weiteres Problem kann sein, dass toxische Produkte aus dem Stoffwechsel nicht wie vorgesehen beseitigt werden. Lagern sich diese ab, können Nervenzellen in Mitleidenschaft gezogen werden und absterben1 – das Gehirn ist aber unbedingt auf Nervenzellen angewiesen, denn sie sind mit der Signalübertragung betraut. Nervenzellen nehmen Signale auf und leiten sie an andere Nervenzellen oder Muskelzellen sowie Drüsenzellen weiter.[1] Damit Sie einen besseren Eindruck von den zugrunde liegenden Ursachen bei Kinderdemenz erhalten, stellen wir Ihnen verschiedene Demenzformen mit den zugehörigen Ursachen vor.
Ursachen von X-ALD: Dabei handelt es sich um eine erbliche Stoffwechselkrankheit.[2] Verantwortlich ist ein genetischer Fehler, der dazu führt, dass ausgewählte Fettsäuren nicht abgebaut werden. Die Ansammlungen bedingen dann Schädigungen am Gehirn, dem Rückenmark und den Nebennieren. Der Buchstabe „X“ in der Bezeichnung deutet auf die Lage des veränderten Gens hin – es befindet sich auf dem X-Chromosom, von dem das männliche Geschlecht nur eines hat. Deshalb erkrankt es beinahe in jedem Fall.[3] Hierbei kommt es zu Myelinschäden der weißen hirneigenen Substanz.[4] Zur Erklärung: Myelin stellt eine isolierende Schicht um die Fortsätze dar, die Nervenzellen miteinander verbinden.[5]
Ursachen vom Alpers Syndrom: Bei diesem vergleichsweise seltenen Krankheitsbild kommt es unter anderem zu einer neuronalen Schädigung, was sich in Entwicklungsrückständen zeigen kann. Verantwortlich dafür ist ein DNA-Abbau in den körpereigenen Kraftwerken der Zellen (Mitochondrien). Ursächlich ist eine Mutation im POLG-Gen – das Alpers-Syndrom ist also vererbbar.[6]
Ursachen der Metachromatischen Leukodystrophie (MLD): Auch diese Erkrankung kann zu neurologischen Störungen, Lähmungen und Demenz im Kindesalter führen. Bei der Erkrankung gelingt es dem Körper nicht, bestimmte Lipide abzubauen – Grund dafür ist ein Enzymmangel, hervorgerufen durch ein abnormes Gen. Dadurch können sich Lipide, auch Fette genannt, im Gehirn, Rückenmark, in der Milz und in den Nieren anhäufen.[7]
Ursachen von Neuronalen Ceroidlipofuszinosen (NCL): Hierunter verstehen Mediziner eine Reihe von Erkrankungen, die zu einem geistigen Abbau, epileptischen Anfällen und Erblindung führen. Grund für die Symptome ist wachsartiges Ceroid-Lipofuszin, dass der Organismus im Körpergewebe speichert. Auch wenn die Substanz dann in allen Körpergeweben vorkommt, erkranken ausschließlich die Nervenzellen. Ursächlich für die Neuronalen Ceroidlipofuszinosen sind Mutationen, die verschiedene Gene betreffen.[8]
Wie kann Kinderdemenz diagnostiziert werden?
Da erbliche Gendefekte die Ursache für die Kinderdemenz darstellen, liegt es nahe, eine genetische Untersuchung einzuleiten. Tatsächlich ist es bei Formen der Kinderdemenz wie den Neuronalen Ceroidlipofuszinosen möglich, die krankheitsauslösende Mutation im jeweiligen Gen mithilfe einer Blutuntersuchung nachzuweisen. Schließlich sind bereits 13 unterschiedliche NCL-Gene bekannt. Doch trotzdem vergehen in der Regel 2-4 Jahre, bis Mediziner bei betreffenden Kindern die Diagnose stellen.4 Das Problem sind also weniger die diagnostischen Möglichkeiten als vielmehr die Seltenheit der Erkrankungen und die Symptome, die losgelöst voneinander betrachtet werden. Zeigt Ihr Kind Sehstörungen oder unkoordinierte Bewegungsabläufe, machen Sie womöglich zunächst einen Termin beim Augenarzt oder einem Orthopäden – das ist verständlich und richtig. Mediziner suchen dann zunächst nach Erklärungen, die besonders wahrscheinlich sind. So können Sehstörungen durch ein „träges Auge“ entstehen.[1] Eltern und Kinder berichten oft davon, dass sie viele Ärzte aufsuchen mussten, bis sich die Symptome zu einem Krankheitsbild zusammengefügt haben und sie eine endgültige Diagnose erhielten.
Kinderdemenz: Therapie und Behandlungsperspektiven
Die Zeit kann bei der Behandlung der Kinderdemenz ein wichtiger Faktor sein. Es gibt nämlich Formen der Kinderdemenz, bei denen eine Ersatztherapie dabei hilft, fehlende oder defekte Substanzen zu verabreichen. Das Ergebnis könnte ein ausgebremster oder aufgehaltener Verlauf sein.1 Bei einer speziellen NCL-Form (CLN2) fehlt ein Enzym, das unerwünschte Stoffe in den Nervenzellen beseitigt, dadurch kommt es zu Schädigungen. Wissenschaftler haben herausgefunden, dass es die Möglichkeit gibt, das Enzym durch die Substanz Cerliponase alfa zu ersetzen – Studien legen nahe, dass die Krankheit dadurch langsamer verlaufen kann. Das Medikament ist in Deutschland zugelassen, am besten besprechen Sie mit Ihrem Arzt, ob eine Verabreichung in Ihrem Fall sinnvoll ist – diese erfolgt dann über eine Kapsel unter der Kopfhaut.5 Wichtig: Je früher Mediziner eine Behandlung einleiten, desto weniger Nervenzellen werden in Mitleidenschaft gezogen.
Gut zu wissen!
Wissenschaftler beschäftigen sich mit verschiedenen Behandlungsansätzen wie Enzymersatztherapien, Gentherapien und Stammzelltherapien. Viele von ihnen sind jedoch noch experimentell und nicht für Betroffene zugänglich.5
Sonstige Behandlungsansätze bei Kinderdemenz
Die Kinderdemenz ist mit vielen Symptomen verbunden, die wiederum in viele Fachdisziplinen fallen. So kann es sinnvoll sein, die Kinder- und Jugendmedizin, die Augenheilkunde und die Neurologie miteinzubinden. Am besten gibt es einen Arzt, der die verschiedenen Behandlungsangebote koordiniert – das kann beispielsweise der Kinderarzt sein.
Entsprechend den Bedürfnissen Ihres Kindes können folgende Behandlungsansätze zum Einsatz kommen:5
- Ergotherapie und Bewegungstherapien: Damit lassen sich die Muskelgruppen ansprechen und somit stärken. Außerdem kann die Beweglichkeit bei Ihrem Kind zunehmen.
- Logopädie: Mit logopädischen Sitzungen kann Ihr Kind das Sprechen und Schlucken trainieren. Achtung: Bei schweren Schluckproblemen ist womöglich eine Ernährung über einen Schlauch notwendig.
- Medikamente: Der behandelnde Mediziner kann Ihrem Kind mit Blick auf bestehende Beschwerden wie Krämpfe oder Schmerzen Medikamente verordnen.
- Psychologische/psychiatrische Behandlung: Bei Aggressionen, Halluzinationen, Depressionen oder anderen Auffälligkeiten kann es empfehlenswert sein, psychologische bzw. psychiatrische Betreuung in Anspruch zu nehmen.
Wie verläuft eine Kinderdemenz?
Eine Kinderdemenz ist bislang nicht heilbar. Es fehlen derzeit Ansätze, um die fehlerhaften Erbanlagen und die damit verbundenen Folgen gänzlich auszugleichen. Die Krankheit schreitet also in der Regel voran, was zu einer zunehmenden Pflegebedürftigkeit führt. Nach anfänglichen Sehproblemen kann sich eine Blindheit einstellen, im Anschluss an unkoordinierte Bewegungsabläufe sind Kinder meist auf einen Rollstuhl angewiesen und später bettlägerig. Die Erkrankungen, die Mediziner unter dem Sammelbegriff Kinderdemenz zusammenfassen, führen meistens innerhalb der ersten beiden Lebensjahrzehnte zum Tod.1
Das können Sie tun, wenn Ihr Kind an Kinderdemenz erkrankt
Ihr Nachwuchs ist an Kinderdemenz erkrankt? Jetzt ist es wichtig, sich ein enges Netz an Unterstützungsmaßnahmen aufzubauen und weitere Informationen einzuholen. Dafür haben wir folgende Tipps für Sie vorbereitet.
- Besuchen Sie eine Spezialsprechstunde: Dadurch, dass es sich bei der Kinderdemenz um eine seltene Erkrankung handelt, ist es wichtig, sich mit Experten zu vernetzen, die Ihnen Informationen bereitstellen können. Sie können sich beispielsweise an ein Kompetenzzentrum für Demenz wenden. Außerdem gibt es spezielle Sprechstunden für unterschiedliche Demenzformen – hier sind Universitätskliniken eine gute Anlaufstelle, die Sie auch über den aktuellen Forschungsstand informieren können.5
- Prüfen Sie einen Anspruch auf einen Pflegegrad: Menschen mit einer eingeschränkten Selbstständigkeit können von der Pflegekasse einen Pflegegrad Dabei ist es unerheblich, ob die Beeinträchtigung aufgrund körperlicher, psychischer oder kognitiver Einschränkungen besteht. So ist auch ein Pflegegrad bei Kinderdemenz möglich. Ist die Pflegebedürftigkeit einmal festgestellt, kann Ihre Familie unterschiedliche Unterstützungsangebote wie die Verhinderungspflege oder das Pflegegeld erhalten.
- Suchen Sie eine Selbsthilfegruppe: Selbsthilfeorganisationen ermöglichen den Austausch zwischen Betroffenen. Hier können Sie sich etwas von der Seele reden und praktische Tipps für die Pflege bei Kinderdemenz
- Informieren Sie sich bei einer humangenetischen Beratungsstelle: Hierbei handelt es sich um den richtigen Ansprechpartner, wenn Sie Fragen zu einer Erbkrankheit haben. Außerdem können Sie hier erfragen, ob Sie Ihr Blut oder das von den Geschwisterkindern auf auffällige Erbanlagen überprüfen lassen können.5
- Nehmen Sie Unterstützung in Anspruch: Wenn das eigene Kind von einer fortschreitenden Erkrankung betroffen ist, stellt das eine große Herausforderung im Alltag dar – nicht nur körperlich, sondern auch psychisch. Lassen Sie sich von den Großeltern, Ihren Geschwistern oder Nachbarn zur Hand gehen. Vielleicht kann Ihnen jemand beim Wocheneinkauf helfen oder die Betreuung über einen gewissen Zeitraum sicherstellen. Scheuen Sie sich nicht, um Hilfe zu bitten.